Grußwort von Botschafter Shi Mingde zur Eröffnung der Fotoausstellung "Chinaflug"
Ich heiße Sie herzlich willkommen und danke Ihnen, dass Sie so zahlreich zur Eröffnungsveranstaltung der Fotoausstellung „Chinaflug" erschienen sind. Besonders danke ich Herrn Bundesminister Müller dafür, dass er sich trotz seiner vielfältigen Verpflichtungen die Zeit genommen hat, heute hier zu sein und ein Grußwort zu sprechen.
Wir werden heute Abend eine einzigartige Ausstellung sehen. Wulf-Diether Graf zu Castell-Rüdenhausen war in den Jahren 1933 bis 1936 als junger Pilot von der Deutschen Luft Hansa nach China entsandt worden, um dort für die in chinesisch-deutscher Zusammenarbeit gegründete Postfluggesellschaft Eurasia zu arbeiten. Mit großer Neugier und dem besonderen Blickwinkel des Piloten erkundete und entdeckte er China auf zahllosen Flügen über dessen Landschaften, und er hielt seine Eindrücke dabei mit einer Leica fest. Zwar wurde ein kleiner Teil der Fotos in dem 1938 erschienenen Bildband "Chinaflug"veröffentlicht, doch die übrigen etwa 1500 Aufnahmen schlummerten in Museen, bis Frau Karin Rehn-Kaufmann und ihr Mann Andreas Kaufmann von der Firma Leica sie wieder entdeckten und mit der Unterstützung der Familie Castell diese Ausstellung kuratierten.
Die Fotografien von Graf zu Castell besitzen nicht nur hohen künstlerischen und ästhetischen Wert, sie sind auch wertvolles Material für die Erforschung der Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. Aus der Zeit von vor 80 bis 100 Jahren sind aus China nicht sehr viele Fotodokumente erhalten, und Luftaufnahmen sind ganz besonders selten, sie können höchsten Wert beanspruchen. Die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts waren in China eine unruhige Zeit der inneren Wirren und der Bedrohung von Außen. In den darauffolgenden 80 Jahren hat das chinesische Volk in unbeugsamem Kampf den Sieg im Widerstandskrieg gegen Japan errungen und unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas das Neue China aufgebaut. Seit seiner Gründung, und besonders in den letzten 30 Jahren von Reform und Öffnung hat dieses Neue China eine präzedenzlose schnelle Entwicklung in die Tat umgesetzt und ein viel beachtetes "Wirtschaftswunder im Osten" zustande gebracht. Das heutige China und das vor 80 Jahren unterscheiden sich wie Tag und Nacht.
Aus diesem Grund habe ich im Verlauf der Vorbereitung dieser Ausstellung der Firma Leica vorgeschlagen, einen hervorragenden Fotografen zu beauftragen, auf den Spuren von Graf zu Castell neue Aufnahmen zu machen, um den Betrachter durch einen solchen visuellen Kontrast den ästhetischen und historischen Wert von Graf zu Castells Fotografien noch stärker zur Geltung zu bringen, und um die Entwicklungen und Veränderungen Chinas deutlich zu machen. Dieser Vorschlag wurde von der Firma Leica umgehend aufgegriffen. Der bekannte Fotograf HG Esch hat den Auftrag der Firma Leica in vorzüglicher Weise ausgeführt. Wenn wir nach der Betrachtung der Aufnahmen, die Graf zu Castell vor 80 Jahren von dem damals schon als "modern" geltenden Shanghai die monumentalen Panoramaaufnahmen von HG Esch hinter mir auf uns wirken lassen, dann werden wir tief beeindruckt sein von den umwälzenden Veränderungen, die die moderne Industriekultur der Menschheit gebracht hat. Dabei ist natürlich Shanghai eine der küstennahen Städte in Ostchina, die sich am schnellsten entwickeln - insgesamt ist China nach wie vor ein Entwicklungsland. Besonders die Entwicklung Mittel- und Westchinas hinkt immer noch hinterher, und es bedarf noch der Bemühungen ganzer Generationen, bis dort das Niveau eines Industrielandes wie Deutschland erreicht ist.
Derzeit weisen die chinesisch-deutschen Beziehungen eine sehr gute Entwicklungstendenz auf, man kann sagen, sie haben ein so hohes Niveau erreicht wie nie zuvor in der Geschichte. Unsere beiden Länder unterhalten nicht nur einen dichten hochrangigen Besuchsaustausch, vertrauensvolle politische Beziehungen und reiche Früchte tragende Wirtschaftsbeziehungen, auch der Austausch und die Zusammenarbeit auf den Gebieten Kultur und Kunst gewinnen ständig an Dichte. Letzten Monat habe ich an zwei groß angelegten chinesisch-deutschen Austauschprojekten teilgenommen: Das eine war die Ausstellung "China 8" in Nordrhein-Westfalen. Sie wird von neun Museen in acht Städten dieses Bundeslands gemeinsam und selbst finanziert durchgeführt. Vier Monate lang sind dort 500 Werke von 120 chinesischen Künstlerinnen und Künstlern zu sehen. Es handelt sich dabei um die bislang größte Ausstellung zeitgenössischer chinesischer Kunst im Ausland.
Das zweite Projekt war die Veranstaltungsserie "China Wahrnehmen" im Rahmen der Berliner Asien-Pazifik-Wochen. China veranstaltete dabei u.a. Kulturaufführungen, eine Filmwoche, Präsentationen zum chinesischen immateriellen Kulturerbe und ein kulinarisches Fest. Besonders durch die für den Umzug zum Berliner Karneval der Kulturen eingeladenen Hüfttrommeltänzer kamen fast 800.000 Zuschauer in Kontakt mit der temperamentvollen Lebensfreude und den volkskünstlerischen Ambitionen der chinesischen Landbevölkerung.
Kultur und Kunst sind Seelenbrücken der Menschheit. Die Ausstellung "Chinaflug", die wir heute eröffnen, steht einerseits für die Begegnung und den Dialog der Inspirationen zweier Fotokünstler, zum anderen ermöglicht sie einen gemeinsamen Auftritt von Chinas Vergangenheit und Gegenwart. Sie wird nicht nur den kulturellen und künstlerischen Austausch zwischen unseren beiden Ländern verstärken, sondern auch den Menschen eine Gelegenheit geben, China von neuem zu entdecken.
Zuletzt möchte ich Frau und Herrn Kaufmann von der Firma Leica recht herzlich danken für ihre sorgfältige Gestaltung dieser Ausstellung. Die Ausstellung wird zunächst im Chinesischen Kulturzentrum Berlin gezeigt, dann wird sie nach Shanghai und Peking wandern, um zuletzt China gestiftet zu werden. Es freut mich besonders, dass ein Mitglied der Familie von Graf zu Castell und auch Herr Hans-Georg Esch heute in die Botschaft gekommen sind. Wir freuen uns darauf, mit Ihnen zusammen noch mehr über diese historischen Aufnahmen zu erfahren, und auch über die kreativen Ideen und das Making-of der neuen Fotografien. Lasst uns heute Abend entlang der von beiden Fotografen eingefangenen Szenen eine künstlerische Zeitreise unternehmen. Natürlich sollten wir von dieser Zeitreise wieder in die Gegenwart zurückkehren, damit wir uns an den von den Köchen der Botschaft zubereiteten chinesischen Köstlichkeiten delektieren können.
Ich wünsche Ihnen allen einen angenehmen Abend in unserer Botschaft!